„Ernährungsmedizin ist eine zentrale Schnittstelle“
Welche Bedeutung hat die Ernährungsmedizin für unterschiedliche Fachdisziplinen?
Plamper: Ernährungsmedizin ist noch eine junge Zusatzweiterbildung, die anfangs etwas belächelt wurde. Seit mehr als 20 Jahren hat sie ihren festen Stellenwert als Zusatzweiterbildung, seit 2020 muss man für den Erwerb der Bezeichnung eine Prüfung nach Erfüllung der Weiterbildungsvoraussetzungen ablegen. Und das hat seinen Grund: Ich sehe sie als zentrale Schnittstelle quasi aller Fachdisziplinen, Ernährungsmedizin hat präventiven und therapeutischen Einfluss. Es gibt keine Fachdisziplin, für die sie nicht relevant ist.
Nehmen wir das Beispiel Zahnmedizin: Um Karies vorzubeugen, ist es wichtig, die Lebensmittel zu kennen, die mit Zuckersäuren den Zahn angreifen. In der Dermatologie gilt es, darüber Bescheid zu wissen, ob ein möglicher Zusammenhang zu allergischen Hauterkrankungen oder Rötungen (Rosacea) besteht.
So rückt Ernährungsmedizin immer mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft – und kann gemeinsam mit der Ernährungswissenschaft bei vielen Fragestellungen unterstützen. Etwa, wenn es darum geht, welche Art von Ernährung vermeintlich oder tatsächlich gesund ist.
Welche Fragen tauchen in Ihren Seminaren auf?
Plamper: Wir haben festgestellt, dass sich die Fragestellungen durch das gesamte Leben des Menschen ziehen. Das fängt an bei der Schwangerschaft – hier geht es um eine sinnvolle Nahrungsergänzung. Nach Geburt stellt sich die Frage nach einer Stillempfehlung: Wie können Mütter unterstützt werden, was ergibt Sinn?
In der Kinderheilkunde kann man Krankheiten wie etwa die Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie (PKU), bei der bestimmte Aminosäuren nicht richtig abgebaut werden, gut durch Ernährungstherapie in den Griff bekommen. Dafür gibt es keine andere Behandlungsmöglichkeit.
Die Ernährungstherapie begleitet Menschen bis ans Lebensende – so ist es bei alten Menschen wichtig zu wissen, wie man Mangelernährung vermeiden kann.
Wie kamen Sie auf dieses Fachgebiet?
Plamper: Ich bin Viszeralchirurg, spezialisiert auf Adipositaschirurgie. In diesem Fachgebiet muss ein Eingriff immer von einer vernünftigen Ernährungstherapie begleitet werden. Das gilt auch z.B. für die Behandlung von Menschen mit dem so genannten Kurzdarmsyndrom: Wer nur einen kurzen Darm hat – nach diversen Operationen – braucht Empfehlungen, was er noch essen kann, um ausreichend ernährt zu sein, oder ob eine künstliche Ernährung erforderlich ist. Aber wir sehen auch Krankheiten, die in Zusammenhang mit der Ernährung stehen, wie etwa das Pankreascarcinom oder kolorektale Carcinom.
Für Kollegen, die Unfallchirurgen sind, ist es wichtig zu wissen, dass viele Brüche als Folge von Knochenschwund (Osteoporose) entstehen. In diesem Bereich spielt Ernährung ebenfalls eine zentrale Rolle.
Was gefällt Ihnen besonders am Thema Ernährungsmedizin?
Plamper: Das schier endlose Anwendungsspektrum – in der Prävention, in der Akutmedizin, in der Reha, ambulant und stationär. Wir haben nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch einen ganz alltäglichen Ansatz: Wie kann ich meinem Patienten helfen? Ich schätze auch den kollegialen, interdisziplinären Austausch. Ich bin zwar wissenschaftlicher Leiter, aber das Referententeam umfasst rund 50 verschiedene Experten. Denn ich kann nicht das gesamte Spektrum der Ernährungsmedizin abdecken und lerne selbst ständig dazu.
Wo sehen Sie den konkreten Nutzen für Patienten und behandelnde Ärzte?
Plamper: Wir können Patienten durch die Ernährungsmedizin vielfach kosten- und nebenwirkungsarm helfen, Krankheiten mitzubehandeln. Und es ist auch möglich, Menschen, die sich intensiv mit dem Thema Ernährung befassen, auf Evidenzbasis zu beraten. Laktoseintoleranz und Zöliakie sind zwar verbreitet, aber nicht bei jedem, der sich entsprechend ernährt, ist das aus medizinischer Sicht nötig. Hier können und sollen wir bremsen, wenn die Erkrankung nicht zweifelsfrei diagnostiziert wurde, sondern die laktose- oder glutenfreie Ernährung eher auf einer Lifestyle-Basis beruht.
Das Interview hat Natascha Plankermann geführt.
